Die Schritte der Nemesis
Ende der 1930er Jahre schrieb der russische Theatertheoretiker und Regisseur Nikolaj Evreinov im französischen Exil sein Stück „Die Schritte der Nemesis“ als Antwort auf die Moskauer Schauprozesse.
Die stalinistischen Schauprozesse 1936–1938 waren totales Theater und Anti-Theater zugleich. Evreinov blickt hinter die Kulissen der Prozesse – aber was sehen wir dort eigentlich? Wahrheit und Fiktion, Maske und Entlarvung, Tatsachen, die sich als Mystifikation entpuppen – all das sind Themen der „Schritte“, die nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben, nicht zuletzt angesichts aktueller Repressionen und Schauprozesse in Osteuropa.
Die Uraufführung am 4. Juni 2022 - eine Kooperation des International Laboratory Ensemble, des Slavischen Seminars der Universität Zürich und des Staatstheater Braunschweig - brachte das Stück, von Evreinovs Witwe in Kleinstauflage publiziert und komplett in Vergessenheit geraten, erstmals auf die Bühne, mit einem internationalen Cast von Mitspieler:innen aus Deutschland, Schottland, Belarus und der Ukraine. Der Produktionsprozess war geprägt von dem Krieg gegen die Ukraine, der zu dem Zeitpunkt bereits 100 Tage andauerte und die Inszenierung inhaltlich wie personell deutlich beeinflusste.
Parallel zur Uraufführung wurde von Sylvia Sasse und Gleb J. Albert der kommentierte Text des Stücks – in deutscher und englischer Sprache – im Diaphanes-Verlag herausgegeben. Das Projekt und die Uraufführung wurde gefördert durch das Agora-Programm des Schweizerischen Nationalfonds.
Pressestimmen
„Die Inszenierung findet für Verzweiflung, Angst und die fürs Überleben notwendige Selbstverleugnung passende Ausdrücke jenseits des auf Deutsch, Englisch, Russisch und Ukrainisch vorgetragenen Textes. … So ist die ‚Nemesis‘ … ein beklemmendes Lehrstück über die gesellschaftlichen und psychologischen Auswirkungen einer von Propaganda inszenierten und durch Einschüchterung geprägten Realität. In Zeiten russischer Kriegspropaganda, die von ‚Entnazifizierung‘ schwafelt und Oppositionelle mit konstruierten Vorwürfen vor Gericht zerrt, ist es ein Stück von bitterer Aktualität.“ (FAZ)
„Der russische Dramatiker und Regisseur Nikolaj Evreinov war ein früher Anhänger des Reenactments. Über die Stalinistischen Schausprozesse schrieb er das Stück ‚Die Schritte der Nemesis‘. Regisseurin Yuri Birte Anderson macht daraus ein großes Lehrstück über Wahrheits-Manipulation und die Macht des Storytelling. … Die Inszenierung lässt das … Premierenpublikum mit einer bitteren Erkenntnis zurück: Alles ist Theater, im Alltag noch mehr, als auf der Bühne.“ (Nachtkritik.de)
„‚Die Schritte der Nemesis‘ zeigt den Machtkampf als Verrat- und Intrigenspiel in ständig wechselnden Koalitionen hinter den Kulissen. … Zuerst huschen die Angeklagten noch entgeistert über die Gerichtssaalbühne vor der Leinwand. Bald aber ist dies der Freiraum, in dem das Stückpersonal mit grotesker Mimik und Gestik ihr Innerstes nach außen kehrt: Verzweiflung, Angst, rasende Wut, Ekel, begleitet von der tonal sich befreienden Musikavantgarde der Zwischenkriegsjahre. … Akut gegenwärtig wird die Aufführung, wenn die Performerin Antonina Romanova nur per Video auf der Bühne auftaucht und betont, in einem Keller in der Ukraine zu sitzen – und erklärt, die Sprache der Aggressoren derzeit nicht sprechen und daher auch den Russland-kritischen Evreinov-Text nicht spielen zu können. Das gehört nicht zur Show, das ist ein authentisches Statement. … So gelingt ein schlüssiger Abend über die Theatralisierung des Politischen.“ (taz)